Bedürfnisse werden als Herzstück der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) bezeichnet. Nicht umsonst wird die GFK deshalb auch „Bedürfnisorientierte Kommunikation“ genannt. Jedoch ist nicht alles, was wir im herkömmlichen Sprachgebrauch als „Bedürfnis“ bezeichnen, ein Bedürfnis im Sinne der GFK.
In diesem Blogbeitrag habe ich dir die 7 wichtigsten Aspekte rund um Bedürfnisse im Sinne der GFK zusammengestellt.
Mit dem folgenden Input kannst du
- echte Bedürfnisse leichter erkennen
- sie besser zueinander in Beziehung setzen
- mehr Eigenverantwortung für das übernehmen, was dir wichtig ist
- freier im Umgang mit Verhaltensweisen werden , von denen du denkst, dass du sie unbedingt brauchst
1. Motor unseres Tuns
Bedürfnisse im Sinne der GFK sind „der Quell aller Lebensenergie“ oder etwas funktionaler formuliert „Motor unseres Tuns“. Salopp könnte man auch sagen: Wenn einen gerade kein Bedürfnis „drückt“, dann tut man auch nichts – denn Lebewesen haben von Natur aus den Hang zum „süßen Nichtstun“. Das macht evolutionsgeschichtlich sehr viel Sinn. Denn in einer Welt von knappen und unsicheren Ressourcen ist es schlichtweg lebensgefährlich, ohne Sinn und Zweck wichtige Kilokalorien zu „verheizen“. Welcher Fuchs oder welche Amsel weiß denn mit Sicherheit, wann der nächste altersschwache Hase über die Felder hoppelt oder wann ein dicker Wurm aus dem reifen Apfel lugt? Was ich damit sagen will:
Es muss sich lohnen!
Wenn Lebewesen sich in Bewegung setzen, um etwas zu tun, dann muss es sich für sie lohnen. Es lohnen sich allerdings nur Verhaltensweisen, die dem jeweiligen Lebewesen das liefern, was es zu einem guten Leben braucht. Was das wiederum ist, wird durch grundlegende Bedürfnisse bestimmt. Das gilt sowohl für Tiere – als auch für Menschen.
2. Alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse
Die GFK geht davon aus, dass Menschen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Kultur oder Sozialisierung – alle dieselben Bedürfnisse haben. Dummerweise haben Menschen dieselben Bedürfnisse allerdings nicht notwendigerweise zur selben Zeit. Auch die Intensität von Bedürfnissen variiert und ist sehr individuell. Die Intensität hat häufig etwas mit vorhergehenden Prägungen zu tun: , je nachdem, was do so im. Hierzu ein Beispiel:
- Ein Mensch, der als Kind wenig liebevolle Anerkennung erfahren hat, wird im späteren Verlauf seines Lebens zumeist ein wesentlich höheres Bedürfnis nach Anerkennung haben als ein Mensch, der in seiner Kindheit diesbezüglich „gut genährt“ wurde.
2.1. Kulturelle Unterschiede gibt es nicht?
Die Vorstellung, dass alle Menschen – unabhängig davon, welcher Kultur sie angehören – die gleichen Bedürfnisse haben, löst manchmal den Einwand aus, dass es doch durchaus kulturelle Unterschiede gebe, die sich auch auf menschliche Bedürfnisse auswirkten.
Als Beispiel wird häufig der ausgeprägte Gemeinschaftssinn in der japanischen Kultur angeführt, der logischerweise dazu führe, dass das Bedürfnis nach Autonomie in Japan nicht so ausgeprägt sei wie in anderen, weitaus stärker individualisierten Kulturen.
Nur weil ein Bedürfnis aufgrund kultureller Gegebenheiten womöglich nicht so stark ausgeprägt ist (= Intensität), bedeutet das nicht, dass es dieses Bedürfnis nicht gibt.
2.2. Angst vor Strafe
Möglich ist auch, dass kulturell stark stigmatisierte oder gar pönalisierte Bedürfnisse aus Angst vor sozialer Ablehnung oder Strafe verdrängt werden. Verdrängte Bedürfnisse lösen sich aber nicht in Luft auf. Sie existieren weiterhin und leben im Untergrund, weil sie im gegebenen sozio-kulturellen Rahmen keinen Raum bekommen, um befreit „ins Leben getragen“ zu werden.
Ein sehr schönes literarisches Beispiel dafür, wie verdrängte Bedürfnisse erwachen und Motor für Veränderung werden können, ist für mich Khaled Hosseinis Buch „Tausend strahlende Sonnen“. In diesem Buch beschreibt Hosseini sehr eindrücklich die Geschichte zweier afghanischer Frauen, die allen familiären und kulturellen Widrigkeiten zum Trotz, nach und nach ihr Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung (wieder)entdecken.
3. Alle Bedürfnisse sind gleichwertig
Auch geht die GFK davon aus, dass es keine absolute Hierarchie von Bedürfnissen gibt. Bedürfnisse sind gleichwertig – sowohl im Verhältnis zueinander als auch im Hinblick darauf, wer die jeweiligen Bedürfnisse einbringt. Konkret bedeutet das:
Das Bedürfnis nach physischem Lebenserhalt oder nach körperlicher Unversehrtheit etwa wiegt nicht per se mehr als das Bedürfnis nach freiheitlicher Lebensführung oder kreativem Selbstausdruck.
3.1. Dein Chef ist nicht wichtiger als du
Auch gilt in der GFK, dass die Bedürfnisse von Erwachsenen und Kindern genauso gleichwertig sind wie bspw. die von Lehrenden und Menschen, die von ihnen lernen, Vorgesetzten und Mitarbeitenden, Tellerwäscher:innen und Millionär:innen. Bedürfnisse von Menschen in unterschiedlichen sozialen Rollen bzw. auf unterschiedlichen Hierarchiestufen haben kein unterschiedliches Gewicht, sondern sind gleichwertig.
3.2. Und was ist mit Maslow?
Insbesondere Menschen, die die Maslowsche Bedürfnispyramide kennen, haben hin und wieder Schwierigkeiten, dem Bedürfnisverständnis der GFK zu folgen. Mithilfe dieser Beispiele möchte ich die Sicht der GFK im Hinblick auf die von der GFK postulierte Gleichwertigkeit von Bedürfnissen verdeutlichen:
- Nur weil Menschen in der Regel ein großes Bedürfnis nach physischem Lebenserhalt haben, heißt das nicht, dass das Bedürfnis nach physischem Lebenserhalt bei allen Menschen stets und immer über allem steht. Wäre dem so, so gäbe es keinen politischen Widerstand in z. B. totalitären Staaten und auch keinen Hungerstreik mit Todesfolge.
- Auch das Bedürfnis nach kreativem Selbstausdruck kann – zumindest zeitweise – stärker wiegen als die grundlegenden Bedürfnisse nach ausreichender physischer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sowie Schlaf, wovon nicht wenige KünstlerInnen im Hinblick auf ihre aktiven Schaffensphasen eindrücklich zu berichten wissen.
Leitet man aus der Maslowschen Bedürfnispyramide eine allgemeingültige Priorisierung von Bedürfnissen ab, besteht die Gefahr, in die Kategorien von „richtig“ und „falsch“ zu rutschen – eine Haltung, aus der die GFK gerade herausführen möchte. Letztlich wollen wir uns nicht darüber streiten, wessen Bedürfnisse nun mehr Berechtigung haben und welche nicht. Wir wollen gemeinsam gute Lösungen für dich und für mich finden.
Genau dies erlebe ich auch immer wieder in meinen Konfliktmoderationen: Win-win-Lösungen, die die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllen, können umso leichter entstehen, je gleichwertiger die berührten Bedürfnisse nebeneinander bestehen und miteinander wirken dürfen.
3.3. Ausnahmeerscheinung
Die Gleichwertigkeit von Bedürfnissen bezieht sich ausschließlich auf den allgemeingültigen Bereich. Auf der persönlichen Ebene können Bedürfnisse selbstverständlich unterschiedlich stark mit „Lebensenergie“ durchdrungen und damit subjektiv unterschiedlich bedeutsam sein.
Hier ein paar Beispiele:
- Lena ist Ehrlichkeit besonders wichtig. Tara findet es nicht schlimm, wenn man auch mal flunkert.
- Fred will mehr Autonomie haben, während Marvin sich nach Einbindung und Gemeinschaft sehnt.
- Amra liebt Abwechslung. Eli mag es lieber, wenn sie sich auf Routinen verlassen kann.
4. BEDÜRFNISSE BESTIMMEN, WIE DU DICH FÜHLST
Viele Menschen sind der Überzeugung, dass das, was im Außen geschieht, Ursache dafür ist, wie man sich fühlt. Anders in der Gewaltfreien Kommunikation. Hier geht man davon aus, dass Gefühle lediglich der Ausdruck erfüllter oder unerfüllter Bedürfnisse sind.
Mit anderen Worten: In der GFK werden Gefühle als „Tankanzeige“ für den Grad der persönlichen Bedürfniserfüllung betrachtet.
4.1. Ein Tank allein reicht nicht aus
Jedes Bedürfnis hat seine eigene Tankanzeige.
Die einzelnen Tankanzeigen sind dabei mit ganz unterschiedlichen Referenzgefühlen verbunden.
- So sind zum Beispiel „hungrig“ und „satt“ die Referenzgefühle für das Bedürfnis nach physischer Nahrungszufuhr.
- „Erschöpft“ und „erholt“ sind wiederum die Referenzgefühle für das Bedürfnis nach Entspannung.
- Geistige Anregung wird über die Referenzgefühle von „gelangweilt“ und „inspiriert“ angezeigt.
Ich persönlich mag das Bild der Tankanzeige sehr gerne, weil es sehr nachvollziehbar veranschaulicht, dass sich nach unten bewegende Mundwinkel stets ein Ausdruck dafür sind, dass sich gerade mindestens ein Bedürfnis nicht erfüllt.
4.2. Nicht jeder Tank ist immer voll
Da jedes Bedürfnis eine eigene Tankanzeige hat, kann es hin und wieder passieren, dass die Erfüllung eines Bedürfnisses dazu führt, dass es plötzlich auf der Ebene eines anderen Bedürfnisses „zwickt und zwackt“. Auch hier möchte ich ein kleines Beispiel geben:
Ich habe seit Stunden nichts gegessen, der Magen knurrt. Die Mundwinkel bewegen sich zusehends nach unten, da ich immer hungriger werde. Die Ursache für meinen Hunger ist, dass der Tank für „physische Nahrungszufuhr“ grenzwertig leer ist. Ich beginne zu essen. Je mehr ich esse, umso mehr bewegen sich meine Mundwinkel nach oben, weil sich mein leerer Magen füllt.
Weil ich aber einen riesigen Hunger habe und mir das Essen auch noch besonders gut schmeckt, esse ich mehr als angenehm in meinen Magen passt. Plötzlich gehen meine Mundwinkel wieder nach unten. Diesmal nicht, weil ich einen „Mordshunger“ habe, sondern weil – wie die Schwaben so schön zu sagen pflegen – „der Ranzen spannt“. Ich fühle mich äußerst unwohl, weil sich gerade das Bedürfnis nach ausreichend Platz im Magen so gar nicht erfüllt.
Damit sich meine Mundwinkel wieder in die Horizontale begeben, bleibt mir wenig anderes übrig, als so lange zu warten, bis der Verdauungsvorgang in Schwung kommt und so weit voranschreitet, dass das Spannungsgefühl des momentan noch spürbar übervollen Magens nachlässt und alsdann aufhört.
4.3. Gefühle – Ein Ausdruck, dass sich Bedürfnisse (nicht) erfüllen
Ich denke an dem vorangegangenen Beispiel lässt sich sehr gut erkennen, dass Gefühle stets Ausdruck (un)erfüllter Bedürfnisse sind und damit in einem unmittelbaren, ursächlichen Zusammenhang zueinander stehen.
Mit anderen Worten:
Gefühle sind das Ergebnis von erfüllten oder nicht erfüllten Bedürfnissen und nicht abhängig davon, was im Außen geschieht. Das Außen ist nur ein Stimulus, der einen innerseelischen Prozess in Bewegung bringt. Welche Gefühle der Prozess mit sich bringt, das wird ausschließlich durch unsere Bedürfnisse bestimmt.
Diese Erkenntnis hat große Auswirkungen auch auf das, wie wir uns anderen Menschen mitteilen.
- Üblicherweise:
„Ich bin ungeduldig, weil du so lange brauchst und ich schon so lange warte.“
GFK-mäßig:
„Ich bin ungeduldig, weil mir wichtig ist, meine Zeit sinnvoll zu nutzen.“
- Üblicherweise:
„Ich bin gestresst, weil du schon seit einer halben Stunde redest.“
GFK-mäßig:
„Ich bin gestresst, weil ich Ruhe brauche.“
- Üblicherweise:
„Ich bin frustriert, weil du immer alles vergisst.“
GFK-mäßig:
„Ich bin frustriert, weil mir Verlässlichkeit wichtig ist.“
- Üblicherweise:
„Ich bin frustriert, weil du ständig nur an dich denkst.“
GFK-mäßig:
„Ich bin frustriert, weil mir Gleichwertigkeit in unserer Beziehung wichtig ist.“
- Üblicherweise:
„Ich bin gelangweilt, weil niemand einen kreativen Vorschlag eingebracht hat.“
GFK-mäßig:
„Ich bin gelangweilt, weil mir sehr an Kreativität in unserer Zusammenarbeit gelegen ist.“
Ich hoffe, mit diesen Beispielen wird klar, wie sehr die gedankliche Stellung des „Weil“ darüber entscheidet, wen oder was wir verantwortlich für unsere Gefühle machen.
4.4. Gefährliche Prägung
In der Art, wie wir zu denken und zu sprechen gelernt haben, machen wir in der Regel das Außen für unsere Gefühle verantwortlich. Dies führt leicht zu Unmut, Rückzug oder Abwehr bei unserem Gegenüber. Schnell lässt das die Kommunikation eskalieren.
Um „Wertschätzend Klartext reden“ zu können ist es deshalb essenziell, (auch) sprachlich klarzustellen, dass unsere Gefühle nicht aus einem vermeintlichen Fehlverhalten unseres Gegenübers („weil du…“) resultieren, sondern (lediglich) unmittelbarer Ausdruck unserer gerade erfüllten oder nicht erfüllten Bedürfnisse sind.
Wie stark unsere sprachliche Sozialisation wirkt, merke ich häufig in meinen Übungsgruppen. Immer wieder schmuggelt sich schnell – und von den Teilnehmenden oft unbemerkt – das „Weil“ zwischen das Geschehen im Außen und den eigenen Gefühlen.
5. Bedürfnisbewusstsein und Eigenverantwortung
Die ursächliche Loslösung unserer (insbesondere als unangenehm erlebten) Gefühle vom Verhalten anderer Menschen bringt nicht nur vermindertes Eskalationspotenzial in der Kommunikation mit sich.
5.1. Frei vom Außen
Ein weiterer Effekt ist, dass wir uns mit der Verlagerung unseres Fokus auch aus der Abhängigkeit vom Außen lösen können: So musst du dich nicht mehr festbeißen an dem, was ein anderer Mensch tut oder auch nicht tut, sondern kannst dich darauf konzentrieren, was dir auf der Ebene deiner Bedürfnisse wichtig ist. Wenn du dann auch noch erkennen kannst, dass du deine Bedürfnisse auch unabhängig von deinem Gegenüber erfüllen kannst, lassen Ärger, Wut und Enttäuschung nach.
Auf diese Weise wird es möglich, in die Kraft der Eigenverantwortung hineinzuwachsen. Diesen Prozess nenne ich den Prozess des tatsächlichen Erwachsenwerdens und die Schlüsselstelle für innere Transformation. Erst wenn Menschen bereit und fähig sind, sich ganz eigenverantwortlich ihrer Bedürfnisse anzunehmen, wachsen sie heraus aus der kindlichen Bedürftigkeit, in der sie vom Tun oder Nicht-Tun anderer Menschen abhängig sind.
5.2. Das Steuer in die Hand nehmen
Wenn du erkennst, dass du selbst im Hinblick auf die Erfüllung deiner Bedürfnisse das Steuer in der Hand hältst, dann können sich auch Ärger, Wut und Enttäuschung auflösen, weil die Verantwortung für dein Unglück nun nicht (mehr) bei deinem Gegenüber liegt.
Auch hier möchte ich nochmals ein Beispiel machen:
Wenn ich denke:
„Ich bin ungeduldig, weil du so lange brauchst und ich schon so lange warte“,
bleibe ich abhängig davon, wie lange der oder die andere braucht, um fertig zu werden.
In diesem Fall kann ich entweder enttäuscht oder resigniert die Wartezeit über mich ergehen lassen oder nörgelnd und voller Unmut mein Gegenüber zur Eile antreiben. Eine andere Variante ist es, ärgerlich zu werden und vor Ärger schnaubend zu gehen.
Wenn ich denke:
„Ich bin ungeduldig, weil mir wichtig ist, meine Zeit sinnvoll zu nutzen“,
dann kann ich mir ganz selbsttätig überlegen, wie ich das sich mir unerwartet öffnende Zeitfenster so nutzen kann, dass ich mich während des Wartens wohl und stimmig fühlen kann.
Ich selbst habe mir für solche Fälle angewöhnt, die eine oder andere liegengebliebene Mail via Handy zu beantworten. Eine andere Möglichkeit wäre, ein paar Minuten ganz bewusst im Hier und Jetzt zu verbringen und eine kleine Meditation zu machen. Auch dies würde mein Bedürfnis nach sinnhafter Nutzung meiner Zeit durchaus erfüllen. Oder ich beschließe, meine Wartezeit spazierend zu verbringen, weil das Wetter so schön ist und ich mich die letzten Tage sowieso viel zu wenig bewegt habe.
5.3. Feuerwerk der Ideen
Die letzten zwei Ideen sind mir mit drei weiteren Ideen ad hoc beim Schreiben in nicht einmal 30 Sekunden eingefallen. Das zeigt sehr deutlich, wie schnell und leicht konstruktive Ideen für einen eigenverantwortlichen Umgang mit den eigenen Bedürfnissen gefunden werden können, wenn wir bereit sind, uns aus unserer erwartungsvollen Abhängigkeit zu lösen.
Wenn wir zudem entspannt und damit innerlich flexibel genug sind, dann ist das Generieren von kreativen Ideen kaum mehr zu (s)toppen.
6. Von der Dynamik der Bedürfnisse
Ein weiterer Aspekt von Bedürfnissen ist ihre Dynamik. Sie kommen und gehen, je nachdem, wie befüllt der jeweilige Bedürfnis-Tank gerade ist. Hierzu wieder ein Beispiel:
Habe ich an einem Tag viel gesessen, werde ich vermutlich erst einmal das unbändige Bedürfnis nach Bewegung haben. Also schnappe ich mir meinen Hund und beglücke ihn und mich mit einer großen Runde flinken Gehens. Damit hat sich mein Bedürfnis nach Bewegung für den Moment erfüllt. Stattdessen habe ich mittlerweile ordentlich Hunger, also esse ich etwas, bis ich satt bin – ein klares Zeichen dafür, dass sich mein Bedürfnis nach physischer Nahrungszufuhr für den Moment erfüllt hat. Und so am Tisch sitzend merke ich plötzlich, dass ich doch recht erschöpft von meinem Tagewerk bin, sodass ich mich zur Entspannung auf das Sofa lege. Auf dem Sofa liegend fällt mir allerdings ein, dass ich auf eine Mail von vorgestern noch nicht geantwortet habe und springe daher auf, weil ich plötzlich sehr stark das Bedürfnis nach Verlässlichkeit in mir verspüre.
6.1. Wie Ebbe und Flut
Merkst du, wie dynamisch unsere Bedürfnisse sind und wie wir uns damit in einem ständigen Hin und Her zwischen der Erfüllung unterschiedlichster Bedürfnisse bewegen?
Ich persönlich erachte diese Fähigkeit, unsere dynamisch wechselnden Bedürfnisse achtsam wahrzunehmen und auf diese angemessen eingehen zu können, für einen ganz wichtigen Aspekt der Homöostase. Die Homöostase ist das Bestreben des Organismus, sicherzustellen, dass wir sowohl physisch als auch psychisch so gut wie möglich „im Gleichgewicht“ sind. Das bewahrt vor physischen und psychischen Mangelerscheinungen, Krankheiten, Burn-outs und sonstigen Erschöpfungszuständen.
6.2. Vieles zur selben Zeit
Auch ist es möglich, mehrere Bedürfnisse zur selben Zeit zu haben, wie zum Beispiel die Bedürfnisse nach Ruhe, Entspannung und Zeit für sich. Wenn die Bedürfnisse – wie im gerade genannten Beispiel – alle aus dem „gleichen Feld“ kommen, ist es in der Regel recht einfach, sie in Einklang zu bringen.
Herausfordernder ist der Umgang mit Bedürfnissen, die auf den ersten Blick so aussehen, als seien sie so gegensätzlich, dass sie sich gegenseitig ausschließen.
7. Bedürfnisse sind abstrakt
Bedürfnisse sind abstrakt, d.h. sie brauchen ein konkretes Tun, um mit Leben befüllt zu werden. Dieses Tun wird in der Gewaltfreien Kommunikation als Strategie bezeichnet. Überlege mal kurz für dich, mit welchen verschiedenen Verhaltensweisen du dein Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung erfüllen kannst. In meinen Seminaren stelle ich auch immer wieder diese Frage, um den Unterschied zwischen Bedürfnis und Strategie zu verdeutlichen. Hier ein paar Antworten der Teilnehmenden, durch welche Strategie sie ihr Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung erfüllen können:
- Lesen, spazieren gehen, in die Sauna gehen, sich hinlegen, schlafen, fernsehen, tanzen, meditieren etc.
7.1. Ein Bedürfnis, viele Möglichkeiten
Wie du an der Vielzahl der Antworten sehen kannst, kann das Bedürfnis nach Entspannung mit ganz unterschiedlichen Strategien erfüllt werden.
Eher mathematisch-funktional ließe sich diese Erkenntnis auch in folgende Formel packen:
1 BEDÜRFNIS = X STRATEGIEN
Dabei ist „x“ in der Regel weitaus größer als eins, zwei oder drei.
Begrenzung erfährt „x“ auf den ersten Blick durch die Rahmenbedingungen der gegebenen Situation; auf den zweiten Blick allerdings ausschließlich durch unsere mehr oder minder ausgeprägte Fähigkeit, kreative und innovative Lösungen entstehen lassen zu können.
Je mehr du lernst, in Möglichkeiten zu denken und das Lebensmotto „Geht nicht, gibt’s nicht!“ zu verinnerlichen, wirst du es einfacher haben, flexibel mit den tatsächlichen Gegebenheiten umzugehen und kreative Handlungsoptionen bzw. Strategien zu entwickeln.
7.2. Strategie oder Bedürfnis?
Vielen Menschen, die zum ersten Mal von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Strategie und Bedürfnis hören, fällt es anfangs häufig schwer, Strategien von Bedürfnissen abzugrenzen. Dies ist insbesondere dann schwierig, wenn eine Strategie sprachlich als Bedürfnis verpackt wird, wie zum Beispiel: „Ich habe das Bedürfnis, dieses Jahr Urlaub im eigenen Garten zu machen.“ Aus einer Strategie wird noch lange kein Bedürfnis, nur weil diese so bezeichnet wird.
Um leichter Strategien von Bedürfnissen abgrenzen zu können, biete ich den Menschen, die meine Seminare besuchen, gerne folgende Hilfestellungen an:
1. Strategien werden in der Regel durch die Verwendung eines Verbes angezeigt wie zum Beispiel:
- Ich muss dringend was essen (die Tätigkeit des Essens als eine Strategie der physischen Nahrungszufuhr; ich könnte stattdessen auch einen Smoothie trinken oder mir eine Nährstofflösung geben lassen).
- Ich will endlich mal wieder einen Urlaub machen (weil mir Entdecken wichtig ist und auch das Kennenlernen fremder Kulturen und damit auch die Inspiration, die durch das Reisen entsteht).
- Morgen geh‘ ich endlich mal wieder in die Sauna (weil mir Entspannung wichtig ist und ich etwas für meine Gesundheit tun möchte).
2. Strategien können ganz einfach um ein „tun“ bereichert werden:
- Ich muss dringend was essen tun.
- Ich will endlich mal wieder einen Urlaub machen tun.
- Morgen tu ich endlich mal wieder in die Sauna gehen. (Das klingt zwar nicht wirklich Pulitzer-Preis-verdächtig, macht aber nochmals klarer, dass wir uns gerade auf der „Tun-Ebene“ und damit im Bereich von Strategien befinden.
3. Bedürfnisse wiederum werden häufig über abstrakte Substantive transportiert, so zum Beispiel:
- Ich fände es so schön, mal etwas mehr Leichtigkeit in unserer Entscheidungsfindung zu erleben
- Ich brauche jetzt einfach mal Ruhe!
- Ich sehne mich einfach nur nach Verständnis.
4. Liegt ein Bedürfnis vor, dann ist es leichthin möglich, ein „Wie auch immer das konkret ausgestaltet sein mag“ anzuhängen – weil das Bedürfnis ja an und für sich abstrakt ist und noch einer Konkretisierung durch ein genau bestimmtes Tun (à Strategie) bedarf. Auch hier ein paar Beispiele:
- Ich fände es so schön, mal etwas mehr Leichtigkeit in unserer Entscheidungsfindung zu erleben – wie auch immer wir das hinbekommen.
- Ich brauche jetzt mal Ruhe – wie auch immer wir das hinbekommen.
- Ich sehne mich nach Verständnis – von wem und wie auch immer.
7.3. Die lebendige Energie von Bedürfnissen
Obwohl Bedürfnisse abstrakt sind, so hat doch jedes Bedürfnis eine ganz spezifische Lebensenergie. Diese Energie ist nichts Esoterisches, sondern ie ganz individuelle gefühlsmäßige Qualität, die jedem Bedürfnis innewohnt.
So fühlen sich zum Beispiel das Bedürfnis nach Entspannung und nach Inspiration völlig unterschiedlich an – einfach, weil ihre gefühlsmäßige Qualitäten verschieden sind:
- Wenn sich Entspannung erfüllt für mich, dann fühle ich mich an, wie ein fauler Kartoffelsack.
- Wenn sich Inspiration erfüllt, dann fühle ich mich voller Energie, die ganz ungeduldig ins Außen drängen möchte.
Die Fähigkeit, die lebendige Energie von Bedürfnissen spüren zu können, ist eine Grundvoraussetzung, damit das, was du GFK-mäßig sagst, nicht wie „aus der Retorte“ klingt. Erst wenn es dir gelingt, Bedürfnisse in Resonanz mit der ihnen innewohnenden Bedürfnisenergie zu artikulieren, wirkt dein Sprechen belebt und echt. Das gilt sowohl, wenn du dich in den 4 Schritten der GFK mitteilst als auch dann, wenn du dein Gegenüber empathisch spiegeln magst.
Und wenn du dich nun fragst, was es mit den 4 Schritten auf sich hat: In meinem Blogbeitrag „Gewaltfreie Kommunikation: Die vier Schritte – So gelingt es wirklich“ erfährst du mehr.
8. SCHLUSSBETRACHTUNG
Wie du siehst, gibt es bei den Bedürfnissen im Sinne der GFK einiges zu beachten. Das gilt sowohl dann, wenn du dich selbst mitteilst, als auch dann, wenn du dein Gegenüber empathisch spiegeln möchtest. Was genau beim empathischen Spiegeln wichtig ist – das erfährst du in einem meiner nächsten Blogbeiträge. Wenn du hier meine Reflexionsimpulse abonnierst, erfährst du als eine*r der Ersten, wann mein neuer Blogbeitrag erscheint.